Seit über einem Jahr erfassen uns regelmässig Wellen. Michi Rüegg wird davon langsam seekrank. Er hofft auf stille See diesen Sommer.
Michi Rüegg
Nun befinden wir uns seit über einem Jahr mehr oder weniger permanent in einem Ausnahmezustand. Meine letzte Party ist 14 Monate her. Das ist insofern noch keine Katastrophe, als dass ich in meinen Dreissigern fast ein Jahrzehnt lang dem Partyleben ziemlich ferngeblieben war. Aber der Unterschied, und das kennen wohl alle, ist: Verzichte ich freiwillig oder weil es mir von irgendwem so befohlen wird?
Seit März des vergangenen Jahres werden wir immer wieder von Wellen überrollt. Noch bevor die erste abgeebbt war, schrieb die Journaille bereits die zweite herbei. Im Wochenrhythmus las man bereits von der nächsten Welle, die kommen werde. Irgendein prophezeiender Experte fand sich dafür immer. Dummerweise kam die Welle dann tatsächlich, wenn auch erst im Herbst und flacht nun dermassen ab, dass unser Gesundheitsminister sich bereits genötigt sah, die dritte Welle anzukündigen. Wir befinden uns in einem unaufhörlichen Wellengang. Und wer wie ich einen Hang zu Seekrankheit hat, wird dabei leicht grün im Gesicht.
Früher mochte ich Wellen. Vor ein paar Jahren machte ich Urlaub an der französischen Atlantikküste. Die Wellen waren den ganzen Tag über riesig, das Wasser kalt. Nur, weil man die ganze Zeit gegen die Brandung ankämpfte, erfror man nicht beim Bade. Hat Spass gemacht.
Doch mittlerweile habe ich die Wellen satt. Die Neue Deutsche Welle ist glücklicherweise längst Geschichte, wenn deren Hits aus dem Lautsprecher tröpfeln würden, müsste ich wohl permanent Antikotzin in den Rachen werfen. Allerdings musste ich das schon vor Corona, wenn ich ehrlich bin. Ausser, ich war gerade in nostalgischer Kitsch-Stimmung.
Ich rechne nun fest damit, dass die Dauerwelle für einige Jahre aus dem Stadtbild verschwindet. Man will beim Anblick von aufwändig frisiertem Damenhaar nicht permanent an Covid erinnert werden. Das Wellenbad beim Hotel Dolder darf meiner Ansicht nach als einziges diesen Sommer geschlossen bleiben. Und allfällige Surfer-Ferien sind abzublasen. Ja, ich vermute sogar, dass ein Nachfragerückgang bei Surfer-Pornos bemerkbar wird. Ist einfach nicht geil, auch wenn die Typen hübsch sind. Man sieht sie in ihren heruntergezogenen Wetsuits neben dem Stapel Bretter vögeln und denkt: Jesses, wann ist schon wieder die nächste Medienkonferenz des Bundesrates?
Der amerikanische Schriftsteller Morton Rhue, der eigentlich Todd Strasser heisst, schrieb ein Buch mit dem Titel «Die Welle». Es handelt von einem Schulexperiment, das in einer faschistischen Organisation endet. Unsereins musste das damals in der Schule lesen. Wir lernten also schon früh: Wellen sind nicht gerade eine Freude. Sie können auch viel Ungemach bringen. Das mussten auch die Bewohner*innen von Fukushima vor ziemlich genau zehn Jahren feststellen, als ein Tsunami über sie hereinbrach und ein bombensicheres Nuklearkraftwerk praktisch wegschwemmte, so dass die Gelbflossenthunfische der Gegend seither im Dunkeln leuchten. Immer diese Wellen. Die lassen einen nie in Ruhe.
Das einzig tröstliche an der Welle ist, dass sie per Definition nicht nur rauf, sondern auch runtergeht. Sonst wäre sie keine Welle, sondern, naja, sonst irgendwas.
Diesen Sommer fahre ich, sofern mich nicht grad die nächste Welle daran hindert, an die Mittelmeerküste, ins Languedoc. Dort sind die Wellen meist mickrig, die See nicht selten spiegelglatt. Ich werde den Blick aufs Meer geniessen. Bis mich die nächste Welle erfassen darf, soll bitte etwas Zeit verstreichen.
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