Michi Rüegg schreibt mittlerweile schon länger für den Cruiser, als er je irgendjemanden gedatet hat. Im Gegensatz zu Angela Merkel tritt er noch nicht ab
Vor Jahren hielt ich mal eine der ersten Ausgaben des Cruiser in den Händen. Sie wirkte wie aus einer völlig anderen Zeit. Ein Produkt einer längst vergangenen Epoche. Wie eines dieser Fahrräder auf uralten Schwarzweiss-Fotos mit einem winzigen und einem riesigen Rad, auf denen Herren mit Zylinder und Zwicker sitzen und an Familien vorbeiradeln, die ihre Kinder in Matrosenkostüme gesteckt haben.
Nun teilt mir der aktuelle Chefredaktor dieses Blatts mit, dass der Cruiser heuer 35-jährig wird. Diese Nachricht hat mich etwas belastet. Zum einen, weil er damit einige Jahre älter ist als ich. Zum anderen, weil ich nun doch bereits eine Weile regelmässig seine Zeilen fülle. Ein Blick in meine Ablage bestätigt: Im Frühling 2005 habe ich meine erste Kolumne abgeliefert. Bald 17 Jahre ist das her. Ein in dem Jahr neugeborenes Baby onaniert mittlerweile bereits seit mindestens drei Jahren. Ich begann, noch bevor Angela Merkel deutsche Bundeskanzlerin wurde. Und jetzt tritt sie ab, und ich bin noch immer hier. Das ängstigt mich etwas. (Ich bin nicht gerade für Treue bekannt, weder gegenüber Arbeitgeber*innen, noch gegenüber Boyfriends.)
Zufälligerweise war ich in jenem Herbst 2005 gerade in Berlin. Mit einem Freund stand ich am Reichstag, als Gerhard Schröder zu Fuss an uns vorbei ging, um sein Amt abzugeben und russischer Erdgasunternehmer zu werden. Die Merkel fuhr im schwarzen Mercedes vor. Sie war gekommen, um zu bleiben. Von ihrem Sitzleder ahnten wir damals allerdings nichts.
In einem meiner ersten Texte beklagte ich mich darüber, dass junge Männer kaum noch einen hoch kriegen. Als Grund dafür vermutete ich Handystrahlung. Danach schimpfte ich über Typen, die lieber ohne Gummi ficken. Mittlerweile ist halb Zürich auf PreP und Erektionsstörungen scheinen weitgehend der Vergangenheit anzugehören. Als ich anfing, gab es schwullesbische Politik. Zum Beispiel, der Kampf um ein nationales Partnerschaftgesetz. Dann wurde alles lesbischwul, dann LGBT, dann LGBTQ. Ich musste regelmässig neue Pasta für die Buchstabensuppe kaufen.
Noch einmal zurück zum Reichstag, 2005. Ich war nach einer etwas unruhigen Nacht mit zwei gross begliederten Polen in der Zentralschweiz ungeduscht mit dem Zug zurück nach Zürich gefahren. Daheim fand ich in meiner Wohnung etwa 15 Grad vor, die Heizung war ausgestiegen. War bereits Ende November und kalt. Ich entschied mich gegen einen Duschversuch, packte meine sieben Sachen und fuhr zum Flughafen. Mit einer befreundeten Autorin hatte ich ausgemacht, dass wir dort am Konzept für eine TV-Serie arbeiten, die das SRF später zwar wollte, aber nie umsetzte, weil sie vergessen hatten, sie zu budgetieren. Im Flieger sass neben mir ein in Berlin wohnhafter (selbstdeklariert heterosexueller) Schweizer, der nach einer erfolgreichen Nasen-OP einen Job als Model gefunden hatte. Wir tauschten Nummern. In Berlin traf ich einen Freund aus der Schweiz, der zufälligerweise auch dort war. Es war die Zeit, als man jeweils mehr Leute in Berlin kannte als in Zürich.
Dann und wann lebt man auch
Frau Merkels Amtseinsetzung feierten wir dann zu dritt, mit den Nasen-Model in dessen Plattenbau-Wohnung. Mein Bekannter bearbeitete die Körperhälfte von der Gürtellinie aufwärts (inklusive der teuren Nase), ich kriegte die untere Hälfte. War ganz nett, bloss musste ich die Szenerie der mittlerweile nackten Köpfe irgendwann verlassen und den ersten Flieger zurück nach Zürich besteigen. Mein Bekannter übernahm freundlicherweise auch die Betreuung der unteren Körperhälfte.
Warum erzähle ich das alles? Zum einen, weil ich seit 16 Jahren nichts anderes tue, als hier irgendwelchen Mist aus meinem verpfuschten Leben auszubreiten. Und zum anderen, weil gerade wieder etwas Jugend in mir aufflackert. Diese Zeiten in meinen goldenen Zwanzigern, als ich noch keine Säule-Drei-Fonds mit Aktienanteilen kaufte und an banalen Tagen völlig absurde Dinge geschahen.
Die tränenreiche Begleitung des eigenen Älterwerdens ist fester Bestandteil der schwulen DNA. Daraus einen Event zu kreieren, würde klischiert wirken. Aber einen Anlass zu finden, um zurückzuschauen, Filme im Kopf abzuspielen und zu versuchen, Gefühle von damals aus dem Einmachglas zu pulen nachzuempfinden – ist doch irgendwie priceless.
Wenn Angela Merkel aus dem Kanzleramt auszieht, Kartonschachteln mit Zimmerpflanzen und gerahmten Fotos in den Armen, kann sie sagen: Ich habe regiert. Ich habe zwar nicht regiert. Aber in den vergangen 16 Jahren habe ich dann und wann immerhin gelebt
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