Christopher Rüping wuchtet John Steinbecks «Früchte des Zorns» auf die Bühne des Zürcher Pfauen. Das Ergebnis: Ein schillerndes Monster, das zuweilen überfordert.
Da stehen sie, die fünf Markenfreaks. In Stückwerk-Klamotten aus einem Streifen Gucci hier, einem Streifen Lacoste da, einem Streifen Chanel auf dem Rücken. Sie sind die Reichen, die Sich-Auskenner. Sie wissen, was hier jetzt gleich zu sehen sein wird. «This is the story of the Joad-Family», rappen sie, «go to california, to get the social welfare.» Und dann sieht man sie, die Familie Joad: Mutter, die schwangere Tochter Rose und den gerade auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassenen Sohn Tom. In grauen, schnörkellosen, knöchellangen Klamotten. Schon ein Blick auf Lene Schwinds Kostüme für Christopher Rüpings Version von John Steinbecks «Früchte des Zorns» am Zürcher Pfauen zeigt: Diese Joads gehören nicht dazu. Und: Sie werden im Leben nur herumgeschubst werden. «Was sollen wir jetzt tun, Mutter?», wird die immer wieder gefragt. Was soll sie sagen? Einer der Markenmenschen stellt sich neben sie, souffliert ihr ins Ohr. Kaum will sie antworten, spricht der andere schon ihre Antwort: «Wir müssen zusammenhalten. Es wird schon gehen.»
Maja Beckmann als Mutter, Nils Kahnwald als Sohn Tom und Nadège Kanku als Schwester Rose stehen in diesem Spiel, das doch ihre Geschichte sein soll, wie Falschgeld. Immer wieder, immer irritierter schaut Beckmann die Frager und ihren Souffleur an, immer wieder hält sie es nicht aus, so bedrängt und gegängelt zu werden und verlässt fluchtartig die Bühne. Die Oberhoheit über ihre Geschichte, ihr Schicksal, hat sie da längst verloren. Maja Beckmanns Spiel: schiere Fassungslosigkeit.
Die Intendanz Nicolas Stemann und Sebastian Blomberg am Zürcher Schauspielhaus begann mit vielen, vielen Vorstellungsinszenierungen, von jedem der acht neuen Hausregisseure je eine, vielen Gastspielen und Spezialabenden. Jetzt endlich, endlich fällt Christopher Rüping die Aufgabe zu, die erste in Zürich entstandene Arbeit zeigen zu dürfen. Rüping wurde an den Münchner Kammerspielen hochgefeiert und von Kritikern der Fachzeitschrift «theater heute» mit dem Antikenprojekt «Dionysos Stadt» zum Regisseur des Jahres erkoren. Für seinen Zürich-Einstand hat er sich Steinbecks 530-Seiten-Roman über die Flüchtlingsströme aus der Dust Bowl Oklahomas in das völlig überforderte Kalifornien vorgenommen, für den der Autor mit dem Nobelpreis geehrt wurde, wie die Jury ausdrücklich befand. Ein Muster, ein Meister, ein Monster von Roman. Gehalthaltvoll bis ins letzte Komma, basierend auf Steinbecks monatelangen Recherchen, gespickt mit Kapitalismuskritik und doch voll Saft und Kraft, Dürre und Staub, Leben und Tod.
So weit, so gut. Aber der Roman entstand 1939 – vor 80 Jahren. «You are in the dark. What do you see?», fragt Steven Sowah die Zuschauer. Man müsste ihm antworten: Wir sehen erstens ein Migrationsdrama. Eine Geschichte von Menschen, die gezwungen sind, sich eine neue Bleibe zu suchen. Und die, von Baby-Spieluhr-Musik eingelullt, von Popsongs verführt, den Ort suchen, wo es Arbeit gibt für alle, aber nie kalt wird. Wir sehen zweitens einen Kommentar zum Schicksal und zum Umgang mit Flüchtlingen heute: Direkt nach der Pause werden die Joads im «Auffanglager» von Steven Sowah als aufdringlich-zynischem Journalisten befragt. Dann will sie ein Minitraktor, der ausländerfeindliche Parolen schreit – «ihr Schmarotzer, haut ab, haut endlich ab» – aus dem Land vertreiben. Wir sehen drittens Reste der Steinbeckschen Kapitalismuskritik. Wie 100.000 andere versuchen die Joads zu überleben. Die Grosseltern sterben dabei, die anderen verhungern fast. Benjamin Lilie ruft als charismatischer Prediger Tom Joad zur Revolte auf, schleudert ihm immer wieder ein «Wehr dich!» entgegen. Und wir sehen viertens die modernisierte Variante dieser Kapitalismuskritik, verdichtet im Satz des Predigers an Tom Joad: «Deine Not ist das Abfallprodukt von Menschen ohne Not!»
Rüpings «Früchte des Zorns» gelingt damit ein hochkomplexer, hochverdichteter Theaterabend. Aber zuweilen überfordert der seine Zuschauer, will zu viel und verliert den roten Faden zwischen Radio Shows, Interviews, Original Steinbeck-Text. Und klebrigen Popsongs von «California Dreaming» bis zu Adeles «Hello», die Markenmensch und Musikerin Kotoe Karasawa mit phänomenal wandlungsfähiger Stimme süsslich dazwischen- und darüberwebt.
Wer sich einlässt auf dieses wilde, wahnwitzige Theater, sieht eine intelligente Steinbeck-Modernisierung. Der sieht auch ein wunderbar durchdachtes Bühnenbild von Jonathan Mertz mit aufblasbaren Gold-Kakteen und skelettösen Bäumen voller Orangen – auch sie nur aufblasbare Luft. Und er sieht ein grossartiges Ensemble, in dem Wiebke Mollenhauer etwa als renitenter Grossvater, Steven Sowah und Benjamin Lillie als Markenmenschen hervorragen. Nils Kahnwald muss sich als Tom Joad über weite Strecken so passiv herumschubsen lassen, dass sich sein Spiel nicht recht entfalten kann. Am Ende ist er weg, und Maja Beckmann und Nadège Kanku besinnen sich als starke Joad-Frauen auf ihre eigenen Stärken. Ein starkes Bild, das sich Steinbeck da hat einfallen lassen.
Früchte des Zorns
Im Zürcher Pfauen
Mit mehreren Vorstellungen im Dezember: www.schauspielhaus.ch