Michi Rüegg hat gelernt, dass Ehrlichkeit nicht immer zielführend ist. Auch wenn er sich oft genug nach ihr sehnt.
Vor ein paar Jahren, ich war damals frisch mit einem meiner heutigen Exen zusammen, waren wir gemeinsam an einer Hochzeit. Eine seiner diversen Cousinen heiratete den Sohn der Nachbarn aus dem Dorf. Oder so. Jedenfalls bat die Braut meinen damaligen Freund, in der Kirche zu singen, da sich in der Familie herumgesprochen hatte, er könne das. Und weil man sich so eine Band sparen konnte. Zusammen mit einem Kumpel, der Gitarre spielte, gab er also während der Trauungszeremonie etwas zum Besten.
Ich sass auf einer der Holzbänke, vorne war Jesus ans Kreuz genagelt und weil es so heiss war, schaute er besonders abgehangen drein. Kaiserwetter. Die Tanten zupften zur Belüftung an ihren Kleidern. Vorne sassen mein Kerl und der andere. Und sie sangen, jeder für sich, ein Lied. Meiner – sofern mich meine Erinnerung nicht trügt – «Halleluja» von Leonard Cohen.
Da drehte sich der Bruder meines Freundes zu mir um und sprach: «Sagst du‘s ihm?» – Was er meinte: Mein Damaliger sang so, wie ein Kurzsichtiger mit Tremor schiesst. Kein einziger Ton traf das Ziel. Es ist fraglich, ob der Komponist seinen Song überhaupt erkannt hätte. Zu allem Übel war der andere Sänger, der mit der Gitarre, auch noch verdammt talentiert. Im direkten Vergleich kackte mein Typ noch drastischer ab. Dass er trotz seines schwarzen Polyester-Jacketts noch immer besser aussah als der mit der Gitarre, war angesichts der gesanglichen Performance ein schwacher Trost. Die Leute waren dennoch sehr höflich, wie immer in dieser Gegend. Draussen klopften ihm die von Schweiss triefenden Tanten auf die Schultern und lobten den Auftritt.
Spätnachts, beim Einschlafen, schlug ich meinem Kerl vor, er solle sich doch das mit der Gesangskarriere noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Es gebe ja auch andere schöne Hobbys. Danach sprach er einen ganzen Tag lang nicht mehr mit mir.
Ich hätte wohl nicht ehrlich sein sollen. Allerdings hat ihn das später nicht davon abgehalten, bei einer dubiosen Gesangslehrerin Stunden zu nehmen und sie im Wesentlichen dafür zu bezahlen, dass sie ihm von ihrem verpfuschten Leben vorjammerte.
Man wirft uns schwulen Männern oft Oberflächlichkeit vor. Nicht ganz zu Unrecht. So manches unserer Leben spielt sich im Dreieck zwischen Sex, Alkohol und Party ab. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man die Instagram-Accounts der Boys anschaut. Doch ist unsere Oberflächlichkeit nicht einfach eine Variante dessen, was alle tun, egal wo? Verschweigen, um den heissen Brei herumreden, Lügen – und sich dann hintenrum das Maul zerreissen?
Wann hab‘ ich denn zum letzten Mal einem Sexdate Folgendes gesagt? «Du bist echt ein verdammt schlechter Top. Deine Vorhaut riecht nach Fischmarkt am Nachmittag, du bewegst deine Hüfte keinen Millimeter und deine Zunge hat mich beim Küssen an die Landung der Alliierten in der Normandie erinnert.»
Nie. Obwohl ich oft genug Grund dazu gehabt hätte. Stattdessen würgt man irgendwas wie «war schön» heraus und blockiert danach das Profil. Ist einfacher.
Oder wenn untalentierte Hobbyköche zum Diner einladen. Die Küche wird zum Schlachtfeld, am Ende kommt irgendwas dabei heraus, was im Wesentlichen aus Tagliatelle mit rotem Curry aus der Konserve und nicht durchgebratenen Tiefkühl-Scampi erinnert. Dazu ein Pinot Grigio aus norditalienischer Massentraubenhaltung. Und weil der Koch so abgewrackt aussieht, lobt man den Frass vollmundig – und irgendein Vollidiot am Tisch weist darauf hin, wie gut doch auch dieser Weisse dazu passe.
Und statt die Wahrheit zu sagen, erfindet man bei der nächsten Einladung einfach irgendeinen Termin, den man nicht verschieben könne.
So sind wir halt. Wir lügen uns durchs Leben, alles fürs allgemeine Wohlbefinden. Und wenn doch mal die Wahrheit aus einem heraustropft, ist das so erfrischend wie eine Brise in einer überhitzten Kapelle an einem Samstag während der Hochzeitssaison.