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Des Künstlers nackte Ladenhüter


Der Zürcher Maler Dieter Hall hat das New York der Achtziger miterlebt und bringt gerne nackte Männer auf die Leinwand. Viele sind sehr attraktiv, doch die meisten davon finden keine Käufer.

Von Michi Rüegg

«Ich bin froh, dass du da bist. In der letzten Zeit habe ich zu viel grün gemalt», sagt Dieter Hall. Er sitzt auf einem alten und sehr mitgenommenen Sessel, der langsam ins Nirvana zerbröselt. Ihm gegenüber ist Tariq, ein kleiner, schlanker Mittzwanziger, kaffeebraune Haut, dunkle Augen. Mit dem Grün spielt Dieter auf seine letzte Ausstellung an, in der er sich dem «Mythos Appenzellerland» und der dort beheimateten Bauernmalerei befasste. Saftig waren sie, die grünen Wiesen.

«Malst du auch Frauen?», fragt Tariq. Der Künstler lacht laut auf: «Ich kann keine Frauen malen, die verwandeln sich alle in Transen.» Eine Ausnahme seien seine Mutter und seine Grossmutter gewesen. Und gelegentliche Auftragsporträts. Tariq ist zu Besuch in Dieters Atelier, weil er sich hier ausziehen und posieren soll. Er ist einer von über 100 Männern, die Dieter in seinem Leben als Akte gemalt hat.

Männer sind das Lieblingssujet des 62-jährigen Künstlers. Gefolgt von Stühlen.

Aufgewachsen ist Dieter Hall in einer psychiatrischen Klinik im Thurgau, deren leitender Arzt sein Vater war. Noch während seines Kunstgeschichte-Studiums begann Dieter zu malen. Nach der Uni zog er nach New York, wo er 27 Jahre blieb. Als eine fast ebenso lange dauernde Beziehung mit einem Amerikaner Geschichte war, zog es ihn zurück nach Zürich, seiner Geburtsstadt.

Die meisten von Dieter Halls Einzel- und Gruppenausstellungen, Dutzende an der Zahl, fanden in der Schweiz statt. Jahrelang pendelte er hin und her. Er malte Porträts, auch das eines Bundesrates, fertigte ungezählte Collagen an, stellte Bronzemännchen her – einige davon stehen in Grüppchen im Atelier. Sie sehen aus, als seien sie beschäftigt, eines onaniert. Immer wieder griff Dieter jedoch zum Pinsel und malte nackte Männer. «Aber nie pornografisch!», hält er fest, auch wenn ein Close-up eines deutlich harten Schwanzes heute an der Wand eines prominenten Zürchers hängt. «Das hat sich so ergeben, die Latte war nicht geplant», meint Dieter.

Tariq und der Maler verabreden sich für den folgenden Tag. Dieter bringt den Bademantel seines Grossvaters als Accessoire. Tariq: «Ein Bademantel war das Einzige, was mein Grossvater mir vermacht hat.» Dieter räumt ein paar Gemälde weg, die am Boden liegen, und stellt den zerbröselnden Sessel vor die Wand. Die Sitzgelegenheit wird’s nicht mehr lange machen, aber dieses Bild schafft sie noch. Tariq nimmt darauf Platz, zieht sich aus, Kleidungsstück für Kleidungsstück, Dieter erteilt Anweisungen und fotografiert dabei mit dem Handy. Keine zehn Minuten dauert die Session. «Es ist gut möglich, dass dir das Bild am Ende nicht gefällt», warnt er sein Modell.

«Sie haben meine Depression gemalt!»

Menschen reagieren unterschiedlich auf ihre Porträts. Jeder Maler malt mehr als sein Auge sieht. Der Bundesrat war damals mit seinem Bild nicht sonderlich zufrieden. Ähnlich erging es einem Herrn, der sich porträtieren liess, um das Ergebnis in seinem Haus auszustellen. Erst war er restlos begeistert, am nächsten Tag brachte er das Gemälde zurück: «Sie haben meine Depression abgebildet, an der ich seit 30 Jahren leide!», empörte sich der Auftraggeber. Dieter hatte nicht mal gewusst, dass der Mann depressiv war. Eine Kundin war hingegen bereits entsetzt, als sie das Ergebnis zum ersten Mal sah: «Sie haben ja meine Mutter gemalt!», warf sie Dieter vor, der ihr entgegnete: «Ich habe ihre Mutter noch nie gesehen.» Und dann folgt ein Satz, von dem Dieter findet, er liesse sich nicht auf Deutsch übersetzen: «A portrait is not of somebody but about somebody.»

Dann erzählt Dieter Hall von früher. Frei habe er sich gefühlt, als er damals in jungen Jahren nach New York gezogen sei. In den Achtzigern hätten die Leute dort das Leben in allen Zügen gefeiert. «Derweil gab’s in Zürich nur das Odeon», erinnert sich Dieter. Eine Bar an der 2nd Avenue wurde zwei Jahrzehnte lang sein Wohnzimmer, dort traf er auf den Poeten Allen Ginsberg, den Popart-Künstler Keith Haring und den Fotografen Peter Hujar. Auch Andy Warhol hat er mal getroffen, der hielt den Schweizer allerdings für einen Sohn reicher Europäer. «Als er gemerkt hat, dass ich nichts kaufen will, war er schnell wieder weg.» Dann kam die Aids-Krise und innerhalb weniger Monate starben viele der bekannten Gesichter. «Das war eine schlimme Zeit, die Kranken wurden abgeschottet», erzählt Dieter. «Männer durften zum Beispiel ihre langjährigen Partner nicht im Spital besuchen, weil sie keine Verwandten waren.»

Die Nackten bleiben unter sich

Einige Tage nach dem Fotoshooting, zu Besuch in Dieter Halls Atelier. Tariq ist nicht dabei. Er wird das Werk erst sehen, wenn’s fertig ist. Präsent ist er dennoch, als skizzierte Hülle auf der Leinwand. Doch bereits wirkt der Mann darauf 20 Jahre älter als das Original. «Das ist erst mal der Anfang», versichert der Maler. Aber ganz so unrecht hat das Bild nicht, Tariqs Persönlichkeit wirkt tatsächlich älter, als er selber ist. Genau das hat Dieter in diesem Stadium wohl unbewusst eingefangen. In den kommenden Wochen wird er immer wieder Pinselstrich für Pinselstrich an Tariq arbeiten. Und wenn er fertig ist, wird er sich darüber freuen und das Bild vermutlich ins Lager zu den anderen stellen.

«Ein nackter Mann ist praktisch unverkäuflich», hält Dieter nüchtern fest. Die meisten der Männer, die sich für ihn ausgezogen haben, stehen heute noch als Akte bei ihm herum. Nur wenige zieren fremde Wände. Den einen oder anderen auf den Bildern kennt man aus dieser oder jener Bar. Einige haben den Maler aus New York nach Europa begleitet. Die Werke bleiben ihrem Schöpfer treu. Es ist die Ironie des Schicksals: Jeder träumt von einem schönen nackten Mann im Bett. Aber an der Wand will ihn niemand haben.

Informationen über kommende Ausstellungen: www.dieterhall.ch


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